Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme

Basel Abbas (*1983 in Nikosia, Zypern) und Ruanne Abou-Rahme (*1983 in Boston, USA), leben und arbeiten zwischen New York und Palästina

Only The Beloved Keeps Our Secrets (2016)
[Nur die geliebte Person bewahrt unsere Geheimnisse], HD-Video, Farbe, Ton, 10:09’

Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme: Only the beloved keeps our secrets (Filmstill), 2016
Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme: Only the beloved keeps our secrets (Filmstill), 2016

Mittels Montage reformulieren die palästinensischen Künstler_innen Basel Abbas und Ruanne Abou-Rahme in Only The Beloved Keeps Our Secrets Erinnerungen an historische Ereignisse im Kontext einer diffizilen Kolonialgeschichte und verweben diese mit persönlichen Erzählungen angesichts der seit Jahrzehnten währenden politischen und konfessionellen Konflikte zwischen Israel und Palästina. In ihren Arbeiten sampeln die beiden Künstler_innen, sozialisiert in der Pop- und Musikkultur der neunziger Jahre, mediale Techniken aus Musik, Sound, Bild, Text und Installation sowie performative Praktiken zu imaginären Landschaften. Sie erzählen u. a. von Dauerkrisen in einer scheinbar endlosen Gegenwart, die von einer Politik des Begehrens und des Desasters bestimmt wird. Ihr archäologischer Ansatz ist geprägt vom Aufund Erfinden zufälliger Konstellationen, die die Erzählung und den Blick in eine unerwartete Richtung lenken – sie verweben Figuren, Gesten, Objekte und Orte zu einem neuen fragmentarischen Skript, das die Geschichtsschreibung der Gegenwart mit imaginativen Handlungsspielräumen in Beziehung setzt. Only The Beloved Keeps Our Secrets ist eine Spurensuche: Möglicherweise handelt es sich um die Aufzeichnung einer Hochzeitsfeier mit Ritualen und Tänzen in einer Straße in Jerusalem – oder um eine Wehklage über die Vernichtung eines Lebewesens? Das Material, das die Künstler_innen über einen Zeitraum von fünf Jahren vorwiegend auf palästinensischem Gebiet sammelten, fügt Schichten und Querverweise zu einem obskuren Gebilde zusammen, das nur einen flüchtigen Moment von Zeugenschaft – vor der erneuten Überschreibung und Löschung – einfängt. Die Künstler_innen verarbeiten zudem Footage einer Überwachungskamera vom israelischen Militärstützpunkt des in der Nähe zu Hebron liegenden Sperrgebiets: Hier thematisieren sie die Festnahme und Erschießung eines 14-jährigen Jungen, der in diesem Gebiet die in der palästinensischen Küche weit verbreitete und nur sehr kurze Zeit blühende Pflanzendelikatesse Akub erntete.

 

Aimé Césaire

*1913 in Basse-Pointe, Martinique, † 2008 in Fort-de-France

Une tempête. Adaptation pour un théâtre nègre (1969)
[Ein Sturm. Stück für ein schwarzes Theater]
Im Zuge der Dekolonialisierung prägte der afrokaribische Schriftsteller Aimé Césaire 1935 den Begriff der „Négritude“ als politischen Begriff schwarzer Selbstbestimmung gegen die französischen Integrations- und Assimilationsbestrebungen einer nationalistisch orientierten „Francité“, die zum Ziel hatte, alle ehemals Kolonisierten unter der Trikolore zu vereinen. Seine 1969 erschienene Bearbeitung für ein schwarzes Theater Ein Sturm, die die Ausstellung zitiert, stellt die Frage, ob die Kolonisierten Teil eines europäisch geprägten Opfernarrativs bleiben oder zu emanzipierten Akteur_innen in einer Welt der globalen Transformation werden? Wie Pasolini reformuliert auch Césaire ein Drama Shakespeares, indem er dessen Der Sturm neu erzählt. Césaire verlagert die Handlung jedoch im Gegensatz zu Shakespeares imaginärer Insel historisch auf die Antillen, nach Haiti. Mit dem dortigen Sklavenaufstand von 1791 erkämpfte Haiti als erstes lateinamerikanische Land seine Unabhängigkeit und Staatsgründung im Jahr 1804. Die beiden Protagonisten, Ariel und Caliban, sind hier schwarze Sklaven, die sich über den richtigen Weg zur Freiheit streiten. Während Ariel vom aussichtlosen Kampf abrät, adressiert Caliban seinen Herren Prospero direkt und provokativ in seiner Landessprache: „Uhuru“ (Suaheli für „Freiheit“) und fordert ihn auf: „Nenn mich nicht Caliban, nenn mich X.“ In direkter Anspielung auf den 1965 ermordeten US-Bürgerrechtler Malcolm X und ein Jahr nach der Ermordung Martin Luther Kings verankert Césaire, langjähriger Bürgermeister in Martinique, seinen Diskurs intellektuell in der damaligen schwarzen Bürgerrechtsbewegung – als ein kulturell wie politisch emanzipatorisches Stück von zeitgeschichtlicher Relevanz.

 

CPKC (Emily Fahlén, Peter Spillmann, Marion von Osten)

The Center for Post-Colonial Knowledge and Culture Berlin (Gegründet 2008 in Berlin, leben und arbeiten in Deutschland, der Schweiz und in Schweden)

Viet Nam Diskurs (2016-17)
Archivinstallation, mit Manuskripten und Erstausgaben, historischen Zeugenberichten und Gesprächen, Fotografien, 10 Originalzeichnungen von Gunilla Palmstierna-Weiss und 6 Filmen, u. a. „Das Russell Tribunal“ von Staffan Lamm: 16mm-Film auf Video, 9:27’, 1967/2003

CPKC: Viet Nam Diskurs, 2016—2017
CPKC: Viet Nam Diskurs, 2016—2017
© Gunilla Palmstierna-Weiss, 1968

1967 veröffentlichte der deutsche Autor, Filmemacher und Künstler Peter Weiss das Theaterstück Viet Nam Diskurs. Der Untertitel dürfte zu den längsten der Literaturgeschichte gehören: Diskurs über die Vorgeschichte und den Verlauf des lang andauernden Befreiungskrieges in Viet Nam als Beispiel für die Notwendigkeit des bewaffneten Kampfes der Unterdrückten gegen ihre Unterdrücker sowie über die Versuche der Vereinigten Staaten von Amerika die Grundlagen der Revolution zu vernichten. In ihrer Archivinstallation analysieren CPKC den Produktionskontext zu Weiss’ politischer Auseinandersetzung mit Vietnam. Sie konzipierten das gezeigte Material in enger Zusammenarbeit mit der Künstlerin Gunilla Palmstierna-Weiss sowie dem Filmemacher Staffan Lamm. Weiss verhandelt in seinem Text die koloniale Vergangenheit Vietnams und den langen Befreiungskampf der vietnamesischen Bevölkerung. Er umspannt die vietnamesische Geschichte, mit Beginn der chinesischen Fremdherrschaft im 2. Jh. v. Chr., über die französische Kolonialisierung seit Ende des 19. Jh., die japanische Okkupation nach Ende des Zweiten Weltkriegs, dem Indochina- Krieg zwischen 1946 und 1954, der die französische Kolonialherrschaft beendete und aus denen die Teilung Vietnams in einen kommunistischen Norden und einen von der USA unterstützten Süden hervorging. Die Chronologie der Ereignisse, die zur US-amerikanischen, völkerrechtswidrigen Intervention im von 1957–1975 währenden Vietnamkrieg führte – die vietnamesische Geschichtsschreibung bezeichnet ihn als „Befreiungskrieg gegen Amerika“ – spielt dabei eine zentrale Rolle. Die Theaterpremiere fand im März 1968 am Schauspiel Frankfurt am Main statt. Die Aufführungen standen aufgrund der massiven Studentenproteste gegen den Vietnamkrieg zum Schutz des bürgerlichen Publikums unter Polizeischutz. Wie der Text so vermittelt auch das Theaterstück die historischen und politischen Dimensionen des vietnamesischen Befreiungskampfes und übersetzt darüber hinaus wesentliche ästhetische Besonderheiten der vietnamesischen Kultur: Aus der intensiven Beschäftigung mit der dortigen Kunst, Theater-, Literaturund Musikkultur entwickelte Gunilla Palmstierna-Weiss ihr Konzept für Bühnenbild, Requisiten und Kostüme sowie – in enger Zusammenarbeit mit dem legendären Brechtinterpreten und Regisseur Harry Buckwitz – die choreografischen Regieanweisungen. Auf die Premiere folgte eine Reise von Peter Weiss und Gunilla Palmstierna-Weiss, zunächst in die Republik Nordvietnam, die sie filmisch und fotografisch dokumentierten. U. a. trafen sie hier Schriftsteller, Kulturpolitiker und hochrangige Militärs der nordvietnamesischen Regierung. Gunilla Palmstierna-Weiss reiste zudem, begleitet von nordvietnamesischen Militärs an die Demarkationslinie zwischen Nord und Süd, wo sie Inspirationen für ein neues Theater erhielt, nachdem sie diverse Theateraufführungen an der Front kennengelernt hatte. Von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Materials war darüber hinaus das zweite Russell-Tribunal, das 1967 in Stockholm und Roskilde stattfand. 1966 initiiert von dem britischen Philosophen Bertrand Russell und dem französischen Schriftsteller Jean-Paul Sartre, untersuchte das Tribunal, u. a. unter Mitwirkung von Peter Weiss und Gunilla Palmstierna-Weiss, die Kriegsverbrechen der USA in Vietnam. Das Russell- Tribunal, von vielen Intellektuellen dieser Zeit weltweit unterstützt – so z. B. von Simone de Beauvoir, James Baldwin und Alice Walker – gilt seither als Blaupause für weitere Untersuchungen, die – anders als das Nürnberger Tribunal – ohne staatliche Beeinflussungen durchgeführt werden, so zuletzt das 2009 ins Leben gerufene Russell-Tribunal zu Palästina.

Tim Etchells

*1962 in Stevenage, UK; lebt und arbeitet in Sheffield und London, UK
W.S.L.S. (2017), LED-Installation

Der Künstler, Autor und Regisseur Tim Etchells beschäftigt sich auch in seinen Neon- und LED-Arbeiten mit den widersprüchlichen Aspekten von Sprache – die einerseits durch Schnelligkeit, Eindeutigkeit und Klarheit eine Erzählung, ein Bild oder Ideen kommuniziert und andererseits die verblüffende Tendenz hat, ein reiches Feld von Unsicherheit und Mehrdeutigkeit hervorzubringen. In Etchells´ LED-Installation W.S.L.S. rollt die idiomatische Redewendung Win Some Lose Some (Mal gewinnt man, mal verliert man) nonstop über den Bildschirm. Die Redewendung kann als Ausdruck stoischer Entschlossenheit angesichts wechselhaften Glücks verstanden werden. Nie in Gänze, sondern nur teilweise zu sehen, legt ihre unvollständige Gegenwart lebhafte Fragmente und halbsemantische Subtexte frei, die sich hinter dem vollständigen Satz verbergen. (Etwa: Lose So, me Win etc.). Zugleich erzeugt der fortlaufende Loop eine zweite Lesart des Textes, der die Redewendung Win Some Lose Some zu „Some Win Some Lose“ (Es gibt immer Gewinner und Verlierer) verkehrt, die in ihrer Direktheit weniger einen stoischen als einen fatalistischen Zug trägt. Durch die ständige Wiederholung eines einzelnen Fragments lenkt Etchells die Aufmerksamkeit auf die Mehrdeutigkeit und den Interpretationsspielraum einer scheinbar einfachen bzw. direkten Sprache.

Tim Etchells

Of And From (On Freedom) (2017)
Wandtext

In seiner Wandtextinstallation Of And From (On Freedom) reiht Tim Etchells vertraute und unbekannte Formen, Ideen und Erfahrungen von Freiheit zu einer widersprüchlichen und frei assoziierenden Auflistung. Indem er Zusammenhänge verschiebt, um schrille und kontrastreiche Vorstellungen zu möglichen Voraussetzungen für Freiheit oder für welchen Zufluchtsort diese stehen sollte, vorführt, untersucht die Arbeit persönliche, soziale, politische, psychologische, ökonomische und rein metaphorische Freiheiten. Dabei werden weder die positiven noch die negativen Möglichkeiten durch einen Bezugsrahmen für Reflektion und Urteil fixiert. Wie bereits in seinen Textperformances beruft die Arbeit einerseits mediale Bilder, reale Debatten, Erzählungen und imaginäre Konfigurationen des Möglichen ein und ist zugleich eine ungeordnete linguistische Übung und Erkundung: In einem Akt von Freiheit führt Etchells die generative Macht von Sprache auf – sowohl durch das Untersuchen existierender Szenarien als auch durch ihre Gegenüberstellung, um neue Formen des Nachdenkens über die auf der Hand liegenden Themen zu ermöglichen. Freiheit meint in dieser sich verheddernden Recherche beides: einerseits „Freiheit“, viel zu oft jedoch die „Beschränkung eines Anderen“ oder die „Bürde eines Themas“. Wie der Philosoph und Autor Byung-Chul Han in seinem Essay Müdigkeitsgesellschaft schreibt: Ein Übermaß an Positivität führt nicht zu Mangel, sondern zu Fülle; sie grenzt nicht aus, sondern entkräftet.— Text: Der Künstler

Glenn Ligon

*1960, lebt und arbeitet in New York, USA

The Death of Tom (2008)
(Toms Tod) 16 mm-Film auf Video, s/w, Ton, 23’

Glenn Ligon: The Death of Tom, 2008
Glenn Ligon: The Death of Tom, 2008
© Glenn Ligon, Courtesy Regen Projects, Los Angeles and Thomas Dane Gallery, London

Warum sollte man Geschichte erzählen? Heißt Geschichte nicht auch im buchstäblichen Sinne Ereignisse schichten? – Womöglich bis zu ihrer ultimativen Verdichtung? 1852 veröffentlichte die amerikanische Autorin Harriet Beecher Stowe den Roman Onkel Toms Hütte, in dem der schwarze Sklave Tom an seiner Duldsamkeit gegenüber seinem Herrn zugrunde geht und stirbt. In seinem Experimentalfilm The Death of Tom reflektiert der afroamerikanische Künstler Glenn Ligon mittels Abstraktion die ethnischen Konflikte, die die US-Gesellschaft bis heute insbesondere im Hinblick auf die schwarze Bevölkerung spaltet. Ligon hatte zunächst eine filmische Rekonstruktion der letzten Szene von Edwin S. Porters Stummfilm Onkel Toms Hütte (1903) geplant, in der Tom, gespielt von einem weißen Darsteller mit schwarz gefärbtem Gesicht, stirbt. Nach Sichtung des Materials stellte Ligon fest, dass „sein Film verschwommen und die Bilder verschwunden waren“. Er entschied sich daraufhin, dieses „missglückte“, geisterhafte Material ungeschnitten zu verwenden: als Verweis auf das Verschwinden bestimmter historischer Narrative und auf die schmerzhafte Geschichte der Repräsentationen ethnischer Differenz, die hier in das Nebeneinander von abstrakten, schwarzen, weißen und grauen Spuren transformiert wird. Ligon beauftragte überdies den experimentellen Jazzpianisten Jason Moran mit der Komposition eines Soundtracks, basierend auf dem Vaudeville-Song Nobody, der zu den jeweiligen Lichtwechseln im Film erklingt. 1905 komponiert und gesungen von dem afroamerikanischen Künstler Bert Williams, wurde der Schlager 1906 in dem Broadway-Musical Abyssinia uraufgeführt und geriet zu Williams’ Signatur. Die Broadway Komödie mit Happy End handelt von einer Gruppe afroamerikanischer Touristen aus Kansas auf einer Reise durch Europa, die sie aufgrund widriger Umstände ins britisch verwaltete Königreich Abyssinien (Äthiopien) verschlägt – in ihre ursprüngliche Heimat. Einer der Protagonisten (Bert Williams selbst) wird von andauerndem Pech verfolgt. In Nobody singt er von der Einsamkeit und Verlassenheit eines Mannes, dem niemand zur Seite steht. „When life seems full of clouds an’ rain and I am filled with naught but pain, who soothes my thumpin’ bumpin’ brain? Nobody.“

 

Frédéric Moser & Philippe Schwinger

Frédéric Moser (*1966 in Saint-Imier, Schweiz) und Philippe Schwinger (*1961 in Saint-Imier, Schweiz) leben und arbeiten in Neuchâtel

Capitulation Project (2003)
(Projekt Kapitulation), Videoinstallation, 16mm-Film auf HD-Video, s/w, Ton, 21:34’

Frédéric Moser & Philippe Schwinger: Capitulation Project, 2003
Frédéric Moser & Philippe Schwinger: Capitulation Project, 2003.
Courtesy: Galerie Jocelyn Wolff / KOW Galery Berlin

In ihrer Arbeit Capitulation Project re-interpretieren Frédéric Moser und Philippe Schwinger das Stück Commune, das der amerikanische Regisseur Richard Schechner 1971 mit der experimentellen New Yorker The Performance Group uraufführte. The Performance Group, Vorläufer der legendären The Wooster Group, verstand sich als environmental theatre, d. h. jede Produktion fand in einem hierfür eigens gestalteten Raum statt. Frédéric Moser und Philippe Schwinger rekonstruierten dieses Bühnenkonzept teilweise und entwickelten in Anlehnung an das Stück ein neues Skript. In der Inszenierung von 1971 verhandelten Performer_innen und Zuschauer_ innen in einer Art partizipativem Sit-In Fragen zum Gemeinschaftsleben in Kommunen, die Morde von Charles Manson sowie den Terror und die Traumata des Vietnamkrieges, so z. B. verursacht durch die US-Massaker in Mỹ Lai. In Capitulation Project hingegen interpretieren die beiden Künstler den Stoff, zwei Jahre nach 9/11, auf der zeitgeschichtlich brisanten Folie des zweiten Irakkrieges neu, indem sie den Vorschlag des französischen Philosophen Jacques Rancière anwenden, dass Fiktion nicht als Gegensatz zur Realität zu verstehen sei, sondern dass das Reale fiktionalisiert werden müsse, um gedacht werden zu können. Auch hier werden Zuschauer_innen an der Performance beteiligt, der Text und die Performance der Akteur_innen jedoch ist – vergleichbar mit einem Brecht’schen Lehrstück – weitaus methodischer und kontrollierter strukturiert, sodass die zuvor unverbundenen Rollen von Opfern, Angreifer_innen, Zeug_innen und Kommentator_innen die Möglichkeit erhalten, als theatrale Repräsentationen miteinander zu koexistieren.

Pier Paolo Pasolini

*1922 in Bologna, †1975 in Ostia
Che cosa sono le nuvole? (1968)
(Was sind die Wolken?), 35mm-Film auf Video, Farbe, Ton, 22’

1968 erschien die Komödie Capriccio all’italiana (Capriccio im italienischen Stil) als sechsteiliger Episodenfilm. Die Episoden wurden von sechs verschiedenen Regisseuren gedreht. Die vierte, Was sind die Wolken?, stammt von Pier Paolo Pasolini mit dem berühmten italienischen Kinokomiker Totò in seiner letzten Rolle. In Pasolinis Kurzfilm wird Shakespeares Othello als Marionettentheater aufgeführt, in dem die lebensgroßen Marionetten von Schauspieler_innen an Fäden dargestellt werden. Im Verlauf des Stücks hinterfragen die Marionetten sich und ihre Handlungen. Vergleichbar mit der Tradition des epischen Theaters von Bertolt Brecht teilt Pasolini diese Zweifel mit dem Theaterpublikum: Dieses wird als unterprivilegierte Schicht bzw. als „Lumpenproletariat“ inszeniert und von Laiendarsteller_innen aus den prekären Vierteln Roms gespielt. Das Publikum begehrt gegen die geplante Ermordung Desdemonas auf, stürmt die Bühne, überwältigt den Intriganten Jago und den ‚Mohr von Venedig‘, und ändert mit seinem Aufstand den Verlauf der Geschichte. Nicht nur Jago und Othello landen bei Pasolini schließlich auf dem Müll, vielmehr sind es die ideologi- schen und standardisierten Narrative, die entsorgt werden. Mit der Idee von Freiheit, Imagination, Poesie und Emanzipation endet sein Film: Othello, zum ersten Mal den freien Himmel sehend, fragt: „Was sind die Wolken?“ und Jago antwortet mit einem vieldeutigen „Ma“ (Wer weiß?…). Zuvor erlebt man auf der Bühne einen zweifelnden Othello, der fragt, warum unser Handeln nicht mit unserem Denken identisch ist? Die Figur wird von einem weißen Darsteller gespielt, dessen Gesicht schwarz gefärbt ist (heute als „Blackfacing“ bezeichnet). Mit dieser Überzeichnung verweist Pasolini auf die rassistischen Implikationen einer allerorts praktizierten Politik der Ausgrenzung. In seinen journalistischen Essays zum „Neokapitalismus“ Italiens in den 1960er / 1970er Jahren verortete Pasolini nach zahlreichen Reisen in afrikanische und asiatische Länder den afrikanischen Süden bereits südlich von Rom, im damals armen Italien. In seinem Gedicht Prophezeiung von 1965 imaginierte er die massenhafte Flucht von Menschen aus dem afrikanischen Kontinent nach Italien und ins übrige Europa, wo sie sich gegen althergebrachtes Unrecht auflehnen und zu Angreifern würden, ehe sie „Lebensfreude, Freiheit und Bruderschaft“ lehrten. Othellos Zweifel verhandelt Pasolini, aufgewachsen in der bäuerlichen Agrarregion Friaul, vor dem Hintergrund eines seit Beginn der 1950er-Jahre wachsenden Wertevakuums in der italienischen Gesellschaft. Die damit einhergehende Doppelmoral erfasste nicht nur die Bewohner der Städte, sondern auch die der ländlichen Gebiete, deren Bewohner aufgrund des Neokapitalismus der Wirtschaft massenhaft zur Migration gezwungen waren. In seinem Film transportiert er seine Kritik an den kulturellen und sozialen Folgen des „Diktats einer alles durchdringenden Ökonomie“ einerseits, indem er Othello wahlweise in Italienisch oder in römischem Dialekt sprechend auf Figuren mit neapolitanischen, sizilianischen oder friaulischen Dialekten treffen lässt. Durch die Erosion der ländlichen Gemeinschaften und auf Druck der Neofaschisten waren diese Dialekte im Verschwinden begriffen. Pasolini tritt diesem kulturellen Werteverfall politisch entgegen, indem er zum anderen die emanzipatorische Geste der Selbstbefreiung und des Widerstands, der „Marionetten“ wie des Publikums, als Narrativ einführt. Der Film spielt zudem mit zahlreichen Verweisen auf Theater, Kunst und Philosophie: U. a. wird zu Beginn ein Plakat in eigener Sache eingeblendet, das die Premiere des Marionettentheaters ankündigt. Auf diesem ist das berühmte Gemälde Las Meninas (Die Hoffräulein) des spanischen Barockmalers Diego Velázquez von 1656 zu sehen, ein Gemälde, das die Grenzen zwischen Bild- und Betrachterraum, Dargestelltem und Darstellendem, Wirklichkeit und Idee beständig verschiebt. Der französische Philosoph Michel Foucault widmete diesem Werk das erste Kapitel seiner Schrift Die Ordnung der Dinge, die 1967 auf Italienisch erschien. Hier stellte er ordnungspolitische wie Deutungskom- petenzen zu Staat und Gesellschaft im Verhältnis zum Individuum mit semiotischen Mitteln kritisch in Frage und interpretierte Freiheit als emanzipatorischen Akt zur Reformulierung ebendieser Beziehungen. Foucaults Text über Las Meninas ist ein Schlüsseltext zu Fragen der Repräsentation, verschiedene damalige Verlagsausgaben wählten das Werk von Velázquez für ihre Buchtitel. Nach seinem frühen Ausschluss aus der kommunistischen Partei aufgrund seiner Homosexualität wurde Pasolini ein dissidenter Freidenker und solidarisierte sich mit dem Elend der „kleinen Leute“. Er schrieb gegen Parteienkorruption, Mafia, Neofaschismus, Umweltzerstörung und den Neokapitalismus an. Nach seiner Auffassung waren der Konsumismus und Hedonismus jene Alltagsdrogen, die zu der moralischen Verwahrlosung und Verrohung der Gesellschaft geführt hatten. Dennoch wählte er für eine Essaysammlung über die Jugend und Politik Italiens den Titel Lutherbriefe, die kurz nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Hierin fordert Pasolini Kampfgeist ein, um „die Dinge, so wie sie sind“, nicht zu akzeptieren.

 

Catarina Simão

*1972 in Lissabon, lebt in Lissabon und Maputo
Mueda 1979 (The Mozambique Archive Series) (2013)
(Die Mosambik Archiv Serie), HD-Video, s/w, Ton, 11’

Catarina Simao_Still Mueda ONE
Catarina Simao_Still Mueda ONE

Mittels Re-Montage verhandelt Catarina Simão in ihrem dokumentarischen Essay-Film Mueda 1979 ein Massaker, das am 16. Juni 1960 in der Provinz Mueda in Nord-Mosambik stattfand. An diesem Tag hatten Repräsentanten der Bewohner von Mueda in einem Gebäude der dortigen portugiesischen Kolonialverwaltung ihre Unabhängigkeit von der portugiesischen Kolonialherrschaft gefordert. In ihrem Essay-Film greift sie auf den Film Mueda: Erinnerung und Massaker des in Mosambik geborenen, brasilianischen Regisseurs Ruy Guerra aus dem Jahr 1979 zurück, der dieses historische Ereignis zum 18. Jahrestag als Re-Enactment vor Ort mit Bewohnern von Mueda inszenierte. Ruy Guerra drehte seinen 75-minütigen Langfilm (in unzensierter Originallänge betrug er 80 Minuten) ebenfalls im Dokumentarstil. Die Handlung fokussiert auf kollektive Erinnerungen und basiert auf vorausgegangenen theatralen Aufarbeitungen dieses Massakers: Bereits seit Ende der sechziger-Jahre wurde dieser Erzählstoff in vielen politisch-militärischen Zentren der Mosambikanischen Befreiungsfront (FRELIMO), die diese in benachbarten Ländern wie dem bereits unabhängigen Tansania unterhielt, als Teil ihrer kulturellen Aktivitäten aufgeführt. Simão verwebt in ihrem Film Texte und mündliche Überlieferungen zu den traumatischen Erlebnissen der Vergangenheit mit einem Ausschnitt aus Ruy Guerras Film. Die dort gezeigte Handlung gilt als das zentrale Ereignis, das schließlich den bewaffneten Widerstand gegen die portugiesische Kolonialherrschaft auslöste. Mosambik erlangte 1975 seine Unabhängigkeit als Republik.

 

Catarina Simão

Uhuru: Stamp. Genealogy. Anatomy (2015)
(Uhuru: Briefmarke. Genealogie. Anatomie) Tisch mit didaktischen Elementen

Catarina Simão: Mueda 1979 (Briefmarke aus Mosambik zum 20. Jahrestag des Mueda-Massakers, Filmstill), 2013
Catarina Simão: Mueda 1979 (Briefmarke aus Mosambik zum 20. Jahrestag des Mueda-Massakers, Filmstill), 2013

Uhuru bedeutet Freiheit auf Suaheli – präzise: Freiheit der Landnutzung. Unter den Bedingungen der Unabhängigkeitsbewegung und durch das Erstarken des Nationalismus in Mosambik veränderte sich die Bedeutung von „Uhuru“, hin zu einem Freiheitsbegriff, der später „nationale Unabhängigkeit“ meinte. Wie auch ihre Langzeitrecherche The Mozambique Archive Series, mit ihren verschiedenen Textarbeiten und Filmen, ist das künstlerisch eigenständige Werk in Buchform, Uhuru: Stamp. Genealogy. Anatomy, Teil eines mehrjährigen Rechercheprojekts. Nach The Mozambique Institute ist es Simãos zweite Buchveröffentlichung; Hier montiert sie u. a. Filmbilder mit aktuellen Material- und Textschichten, auf der Suche nach der originalen, unzensierten Version des Films von Ruy Guerra. Eingewoben sind außerdem Interviews und historische Dokumente zu den pädagogischen Erfahrungen und Filmprojekten der Filmemacher Jean Rouch und Ruy Guerra im Mosambik der siebziger Jahre. Das Buch gibt außerdem Aufschluss über ein gescheitertes Großprojekt von Jean-Luc Godard, der von der Regierung eingeladen war, einen Masterplan für das im Entstehen begriffene staatliche Fernsehen zu entwickeln.

Stamp (Briefmarke)

Teil von Uhuru: Stamp. Genealogy. Anatomy ist eine Briefmarke, die die Republik Mosambik am 16. Juni 1980 zum zwanzigjährigen Gedenken an das Massaker von Mueda herausbrachte. Der 16. Juni erinnert jedoch nicht nur an das Massaker, sondern auch an den Tag, an dem der mosambikanische Metical den portugiesischen Escudo als Währung ablöste. Darüber hinaus ist es der Tag des afrikanischen Kindes, der an das Massaker vom 16. Juni 1976 in Soweto, Südafrika erinnert – auch als Schüleraufstand bezeichnet. An diesem Tag protestierten Kinder gegen die rassistische Bildungspolitik des Apartheid-Regimes. International wurde der Tag des afrikanischen Kindes erst 1991 eingeführt.

 

Ana Torfs

*1963 in Mortsel, BE; lebt und arbeitet in Brüssel
Story Generator (2015)
(Geschichten-Generator), Installation

Ana Torfs: Story Generator, Installationsansicht Atelier Vlaams Bouwmeester, Brüssel, 2015
Ana Torfs: Story Generator, Installationsansicht Atelier Vlaams Bouwmeester, Brüssel, 2015, Foto: Ana Torfs

In ihrer intertextuellen Installation Story Generator entwirft die belgische Künstlerin Ana Torfs eine neue Lesart der letzten 500 Jahre belgischer Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte. Das Rotationsobjekt aus Kupfer ähnelt nicht nur Rollkarteisystemen wie dem Rolodex, sondern auch dem berühmten Bücherrad von Agostino Ramelli aus dem 16. Jahrhundert. Es erinnert außerdem an die mechanische Lesemaschine, die der französische Schriftsteller Raymond Roussel in den 1930er-Jahren gemeinsam mit dem argentinischen Pataphysiker Juan Esteban Fassio als Lesehilfe für seine verschachtelten Texte entwarf, oder an das Mutoskop, ein Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelter Apparat zur Vorführung bewegter Bilder nach dem Prinzip des Stroboskops. Der Story Generator enthält 505 beidseitig bedruckte Indexkarten mit einer Vielzahl von Bildern und Textausschnitten, die von zwei sich gegenübersitzenden Betrachter_innen gleichzeitig gelesen werden können. Diese bilden ein Netz von Assoziationen und Querverweisen, die die Besucher_ innen durch Stories und Szenen einer mehr als 500-jährigen, fragmentierten Geschichte führen. Torfs Anthologie ist dabei offensichtlich nicht „neutral“ – ihr Leitmotiv ist der steigende Grad an Reichtum in einer westlich © Ana Torfs, Story Generator, 2015 geprägten Welt seit dem Beginn der Moderne mit ihren materiellen, wissenschaftlichen, künstlerischen und kulturellen Entwicklungen und Errungenschaften, die sie der brutalen Ausbeutung von Menschen und Regionen in Übersee verdankt. Brüssel als die Hauptstadt Europas wird dabei zum Brennpunkt, in dem die Künstlerin eine große Anzahl maßgeblicher Figuren aus der langen Geschichte von ökonomischer und politischer Macht – in oftmals überraschenden Kombinationen – Revue passieren lässt: Kaiser Karl V., Albrecht Dürer, Charlotte von Mexiko, Joseph Conrad, der Pionier der Afrikaforschung Henry Morton Stanley, Patrice Lumumba und viele andere.

 

Ana Vaz

*1986 in Brasília, Brasilien; lebt und arbeitet zwischen Paris und Lissabon
Amérika: Bahía de las Flechas
(Amérika: Bucht der Pfeile), HD-Video, Farbe, Ton, 9:40’

Ana Vaz: Amérika: Bahias de las Flechas, 2016.
Ana Vaz: Amérika: Bahias de las Flechas, 2016.
Courtesy: Ana Vaz

„Es wird gesagt, dass das erste europäische Schiff mit Christoph Kolumbus als Kapitän 1492 an der Küste Samanás in der heutigen Dominikanischen Republik landete.“ Der indigenen Legende nach wurden die Eroberer von einem Pfeilregen empfangen, sorgfältig geplant und orchestriert von den karibischen Ureinwohnern, den Taino. Mit forensischem Blick schreibt die brasilianische Künstlerin Ana Vaz in ihrem Video-Essay – mit der Filmkamera in einer aktiven Rolle – die offensichtlichen wie die verborgenen Details einer epochalen Zeitenwende in die Textur der Landschaft ein. Indem sie die Kamera führt wie einen fremden, teils wilden Körper, der zum Pfeil wird, sucht sie in Amérika: Bahía de las Flechas zum einen nach Wegen, diese Geste der Vergangenheit wiederzubeleben und -erwecken. – „Pfeile gegen den unaufhörlich fallenden Himmel“. Auf der narrativen Ebene ihres Films verwebt sie darüber hinaus das Bild von der Ankunft der spanischen Flotte und dem imaginären Widerstand der Taino mit dem indigenen Mythos von der „gefiederten Schlange“, die einmal im Jahr vom Himmel auf die Erde steigt. Die rotierenden Kamerafahrten mit ihren zuweilen desorientierenden Einstellungen spielen formal auf ebenjene indigene Auffassung von einer zyklischen Beziehung zwischen Himmel und Erde an. In Bezug auf die historische und anthropologische Kartografie, die die Kolonialisierung durch das Aufeinanderprallen verschiedenster Kulturen radikal veränderte, fiktionalisiert Vaz ihre Erzählung und erweitert sie, indem sie die historischen Narrative durch eine für sie essentielle Dimension ergänzt: Die Anwendung von Gewalt durch den Menschen gegen die Natur. In der Verschränkung einer noch ferneren Vergangenheit mit der aktuellen Gegenwart setzt sie eine geologische mit einer ökologischen Sichtweise in Beziehung. Der Film wurde am Lago Enriquillo, ein nach dem Taino-Häuptling Enriquillo benannter Salzsee, gedreht, der aktuell von profunden Veränderungen seines Ökosystems betroffen ist. Ganze Tierarten sind zur Migration und das Umland zur Evakuierung gezwungen und die sich ausbreitende Korallenwüste legt die geologische Vergangenheit des Sees frei. Ein substantieller Teil der Taino-Artefakte liegt bis heute unter der Oberfläche dieses Sees verborgen und verweist auf die ständige, wenn auch unsichtbare Präsenz dieser Kultur und auf die zeitliche Überlagerung von geologischer, historischer und gegenwärtiger Zeit. © Ana Vaz, Amérika: Bahía de las Flechas, 2016 Ana Vaz’ gleichermaßen geologische, historische wie zeitgenössische Perspektive setzt sich in ein kritisches Verhältnis zum – mittlerweile offiziell ausgerufenen – „Zeitalter des Anthropozäns“, das nach Langzeitstudien die profunden Schäden und teils irreversiblen ökologischen Nachwirkungen durch den Eingriff des Menschen in die Natur seit Beginn der Industrialisierung nachwies.

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