Abbildungen (von links nach rechts): Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, Pier Paolo Pasolini, Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme, CPKC

Einführung

Reformation und Pier Paolo Pasolinis Film Was sind die Wolken?
Vom 18. November 2017 bis zum 4. März 2018 ist im Kuppelsaal des Kunstgebäudes Stuttgart die Ausstellung Was sind die Wolken? zu sehen. Die Ausstellung basiert auf einem Netzwerk zwischen den Stuttgarter Institutionen Württembergischer Kunstverein, Akademie Schloss Solitude, Schauspiel Stuttgart, Theater Rampe, Institut für Auslandsbeziehungen, Staatliche Akademie der Bildenden Künste und anderen und wurde von Iris Dressler und Christine Peters kuratiert.

Was sind die Wolken? nimmt das Jubiläum der Reformation zum Anlass, um aus der Perspektive der Gegenwartskunst über Freiheit, Emanzipation und Imagination nachzudenken.

Emanzipation – im Sinne der Zurückweisung bestehender Normen und Machtverhältnisse und ihrer angeblichen Natur- oder Gottgegebenheit – ist ein Prozess, dessen Wurzeln, so der französische Philosoph Michel Foucault, im 15. und 16. Jahrhundert zu finden sind. Er geht mit der Neupositionierung des Subjekts einher und betrifft jene „große Umgestaltung der Art und Weise, wie die Menschen regiert wurden“: Umwälzungen, die in Europa durch die Reformation, die Bauernaufstände und die Gegenreformation ihren Ausdruck fanden.

Zentraler Ausgangspunkt der Ausstellung ist der Kurzfilm Che cosa sono le nuvole? (Was sind die Wolken?) des italienischen Filmregisseurs, Autors und Publizisten Pier Paolo Pasolini von 1968.
In Pasolinis Film wird Shakespeares Othello als Marionettentheater aufgeführt, wobei die lebensgroßen Marionetten von Schauspieler_innen an Fäden dargestellt werden. Im Verlauf des Stücks hinterfragen die „Puppen“ sich und ihre Handlungen: Othello möchte Desdemona eigentlich nicht töten. Das Publikum, das von Pasolini nicht nur als unterprivilegierte Schicht charakterisiert, sondern auch von Laiendarsteller_innen aus den prekären Vierteln Roms gespielt wird, widersetzt sich schließlich der vorgegebenen Erzählung. Um Desdemonas Ermordung zu verhindern, stürmt es am Ende die Bühne. Der Intrigant Jago und der ‚Mohr von Venedig’, Othello, werden überwältigt. Pasolini lässt Letzteren von einem weißen Schauspieler mit schwarz gefärbtem Gesicht spielen (heute als „Blackfacing“ bezeichnet) und verweist so auf die rassistische Tradition, dunkelhäutige Figuren durch weiße Schauspieler_innen darzustellen. Jago und Othello werden schließlich von einem singenden Müllmann entsorgt.
Abgeladen auf der Halde, sieht Othello zum ersten Mal die Wolken ... Auf seine Frage „Was sind die Wolken?“ antwortet Jago mit einem vieldeutigen „Ma“ („Wer weiß?“)...

 

Der emanzipierte Zuschauer
Pasolini wendet die Shakespeare’sche Tragödie ab, indem er den – wie man es mit dem französischen Philosophen  Jacques Rancière sagen könnte – „emanzipierten Zuschauer“ auf den Plan ruft.
Dieser ist im wahrsten Sinne des Wortes aktiv an der Bedeutung und Interpretation des Stücks beteiligt, gestaltet es durch sein Wissen (Desdemona ist unschuldig) und Wollen (sie soll nicht sterben) mit und greift in die Handlung ein. In der scheinbaren Verwechslung von
Wirklichkeit und Imagination bricht ein Moment des Möglichen auf.
Das angeblich Unvermeidbare wird nicht anerkannt, es wird umgelenkt. Darin liegt die zutiefst politische und emanzipatorische Botschaft des Films. Selbst die Verlierer gewinnen am Ende nicht weniger als den freien Himmel mit seinen unvorhersehbar vorüberziehenden Wolken.

Zur Ausstellung
Die Ausstellung Was sind die Wolken? folgt dem emanzipatorischen Motiv von Pasolinis Othello-Interpretation, in der sich das handelnde Subjekt durch Zweifel, Ungehorsam und Freiheitsstreben verortet. Darüber hinaus knüpft sie an einige inhaltliche Motive und Verweise des Films an, wie etwa Blackfacing oder Zuschauerpartizipation, sowie an Pasolinis ästhetische Methoden, insbesondere was die Neufassung und Gegenlektüre bestehender Werke betrifft. Gezeigt werden Video- und Textarbeiten, Installationen und Objekte von acht weiteren Künstler_innen bzw. Künstler_innengruppen. Im Vordergrund stehen Werke, die auf kritischen De- und Remontagen aus den Bereichen Kunst, Literatur, Film, Theater und Geschichtsschreibung basieren.
Inhaltich geht es dabei zum Beispiel um Widerstandsformen, -diskurse und -kulturen der 1960er- und 1970er-Jahre, wie die Proteste gegen den Vietnamkrieg, auf die sich Frédéric Moser und Philippe Schwinger in ihrer Videoinstallation Capitulation Project (Projekt Kapitulation) oder die Gruppe CPKC in ihrer Archivinstallation Viet Nam Diskurs beziehen. Catarina Simão beschäftigt sich in ihrem Film Mueda 1979 wiederum mit der Unabhängigkeitsbewegung gegen die portugiesische Kolonialmacht in Mosambik. Bei allen drei Werken handelt es sich um die Reformulierung bestehender Theaterstücke (im engeren und weiteren Sinne), bei denen im Falle von Moser und Schwinger und Simão die Rolle der Zuschauer_innen eine besondere Bedeutung einnimmt.

Während sich das Projekt Viet Nam Diskurs mit dem gleichnamigen Stück von Peter Weiss auseinandersetzt, greifen Frédéric Moser und Philippe Schwinger auf das partizipative Stück Commune (1971) der New Yorker Performance Group zurück, das sich u.a. dem Versuch näherte, das Massaker im südvietnamesischen Mỹ Lai aus der Sicht aller Beteiligten nachzuempfinden. Simãos Film hat mit einem ähnlichen Experiment zu tun: Es handelt sich um ein Fragment aus Ruy Guerras Film Mueda: Erinnerung und Massaker von 1979, der auf der Wiederaufführung dieses Ereignisses, das 1960 in der Provinz Mueda in Nord-Mosambik stattfand, basiert. Dieses Re- Enactment wurde von den Bewohner_innen des Ortes aufgeführt. Die Grenzen zwischen Darsteller_innen und Zuschauer_innen sind fließend. In einer Art Umkehrung des Blackfacing-Prinzips werden weiße Figuren von schwarzen Darsteller_innen mit spitzen Pappnasen gespielt.

Als direkte Replik auf Pasolinis Re-Interpretation eines Shakespearestoffes zeigt die Ausstellung ausgewählte Zitate aus Aimé Césaires Stück Ein Sturm. Stück für ein schwarzes Theater, das Shakespeares Drama Der Sturm aus dekolonialer Perspektive neu erzählt und mit den Diskursen der US-amerikanischen schwarzen Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre verschränkt. Die Figur des Caliban, die als Repräsentant des Kolonialisierten schlechthin gilt, tritt bei Césaire als Rebell auf, der sich seiner ihm zugeschriebenen Rolle des Unterdrückten widersetzt und die Machtgefüge zwischen Kolonisator und Kolonialisierten durchschaut.

Die Geschichte und Auswirkungen des modernen Kolonialismus und des Sklavenhandels, die ihre Wurzeln – wie der Kapitalismus selbst – bekanntlich im Zeitalter der Reformation haben, werden in einer Reihe von Arbeiten thematisiert.

Wie Césaire so bedient sich auch Glenn Ligon dabei auf kritische Weise eines literarischen Werks – und dessen Verfilmung –, in denen Kolonialismus und Sklaverei aus der Position weißer Autor_innen reflektiert werden. Es geht um Harriet Beecher Stowes Roman Onkel Toms Hütte (1852) und den gleichnamigen Stummfilm von 1903. Ursprünglich hatte Ligon geplant, den historischen Film neu zu bearbeiten. Auf den ersten Aufnahmen war jedoch nicht mehr als ein schwarz-weißes, geisterhaftes Flimmern zu erkennen. Genau dies macht sich Ligon schließlich als Verweis auf das Verschwinden bestimmter Narrative sowie auf die Wiederkehr des Verdrängten zu eigen.

Mit Ana Torfs Story Generator (Geschichten-Generator), einer Art intertextuellen Lesemaschine aus 550 Karteikarten, lassen sich Zusammenhänge zwischen der fünfhundertjährigen belgischen Kolonial- und Wirtschaftsgeschichte immer wieder neu und unter anderen Vorzeichen herstellen. Ana Vaz wiederum geht in ihrer Videoarbeit Amérika: Bahías de las Flechas (Amérika: Bucht der Pfeile) den Spuren der brasilianischen Kolonialgeschichte in einem zerstörten Ökosystem nach. Die rotierenden Kamerafahrten, die die Welt immer wieder wortwörtlich auf den Kopf stellen, erzeugen dabei einen hohen Grad an Desorientierung.

Die Auseinandersetzung mit Kolonialismus und modernem Sklavenhandel ist in einer Ausstellung, die Motiven und Praktiken von Emanzipation und Freiheit nachgeht, geradezu zwingend. Denn der europäische Freiheitsbegriff blieb in der transatlantischen Dimension ambivalent. So hat die amerikanische Philosophin Susan Buck-Morss in ihrem Werk Hegel und Haiti darauf hingewiesen, dass die Sklaverei im 18. Jahrhundert zur zentralen Metapher der
politischen Philosophie des Westens, der Aufklärung, avancierte: als Gegenstück zu einer Freiheit, die nach der französischen Revolution von 1789 zum universellen und höchsten Gut der Politik erhoben wurde. Der systematisch perfektionierte Sklavenhandel, der zu dieser Zeit als Motor des Kapitalismus seinen Höhepunkt erreichte, sei, so Buck-Morss, in den maßgeblichen Diskursen dieser Zeit ausgeblendet worden. In gewisser Weise ist der europäische bzw. westliche Begriff von Freiheit, Emanzipation und autonomem Subjekt also direkt mit Rassismus, das heißt der Ausbeutung, Entmenschlichung und Nichtanerkennung bestimmter Ethnien, verbunden.

Pasolinis Film Was sind die Wolken? ist auf der bildlichen Ebene auch voller Anspielungen auf den spanischen Barockmaler Diego Velázquez. So wird der Film bzw. das Marionettenstück im Film selbst auf einem Plakat angekündigt, dessen Motiv Velázquez’ berühmtes Gemälde Las Meninas (Die Hoffräulein) ist. Michel Foucault widmete diesem das erste Kapitel seiner Schrift Die Ordnung der Dinge, die 1967, ein Jahr vor der Premiere von Was sind die Wolken?, auf Italienisch erschien. Foucaults Text über Las Meninas, ein Gemälde, das die Grenzen zwischen Bild- und Betrachterraum, Dargestelltem und Darstellendem, Wirklichkeit und Idee beständig verschiebt, ist ein Schlüsseltext zu Fragen der Repräsentation.

Die Dekonstruktion von Sprache und Schrift, die zu den zentralen Repräsentationssystemen zählen, ist eine der herausragenden Anliegen im Werk des Künstlers, Autors und Theatermachers Tim Etchells. Er ist in der Ausstellung unter anderem mit dem Wandtext Of And From (On Freedom) [Aus und von (Über Freiheit)] vertreten, der den Begriff der Freiheit gleichermaßen auf phonetischer und sprachlicher Ebene zerlegt.

Die Dekonstruktion, das heißt die De- und Remontage von Bild, Text und Musik, gerät in Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahmes Videoarbeit Only The Beloved Keeps Our Secrets (Nur die geliebte Person bewahrt unsere Geheimnisse) zur zentralen Methode, um sich der Komplexität des Konfliktes zwischen Israel und Palästina annähern zu können.

Für die Ausstellung wurde eine spezifische Raumarchitektur entwickelt, die den Ausstellungsraum selbst zugleich als Bühne, Forum und Agora und somit als Ort für Aufführungen und Debatten erschließt.

Das dichte Programm aus Workshops, Vorträgen, Foren, Performances und Filmvorführungen ist entsprechend integraler Bestandteil der Ausstellung.

Parallel zu Was sind die Wolken? zeigt der Württembergische Kunstverein die Einzelschau
Alexander Kluge. Gärten der Kooperation (bis 14. Januar 2018). Kluge zeigt darin unter anderem eine Hommage an Pasolinis Was sind die Wolken?.

Booklet Was sind die Wolken? (PDF)
Flyer Was sind die Wolken? (PDF)

Künstler_innen
Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme,
CPKC (Emily Fahlén, Peter Spillmann,
Marion von Osten), Tim Etchells, Glenn Ligon,
Frédéric Moser & Philippe Schwinger,
Pier Paolo Pasolini, Catarina Simão,
Ana Torfs, Ana Vaz u. a.

Tickets
Einzelticket: € 5 / 3 ermäßigt
Kombiticket 1 mit Reformation in Württemberg, Sonderausstellung des Landesarchivs BW im Altbau des Kunstgebäudes: € 10 / 6 ermäßigt
Kombiticket 2 mit Alexander Kluge. Gärten der Kooperation im Württembergischen Kunstverein Stuttgart: € 8 / 5 ermäßigt

Kasse/Tickets
Tel +49 172 344 6977

Öffnungszeiten
Di, Do–So: 11-18 Uhr; Mi: 11-20 Uhr

Am 13.2. (Faschingsdienstag) bleibt die Ausstellung geschlossen.

Kostenlose Führungen
Sonntags, 17 Uhr

Führungen für Schüler_innen
Kostenlose Führungen für Schulklassen

Individuelle Gruppenführungen
ca. 60 Min / € 50 zzgl. ermäßigter Eintritt/Person

Termine für Schüler- und Gruppenführungen auf Anfrage: gebhard_lehner@kunstgebaeude.org

Aktuelle Veranstaltungen

Künstler_innen

Basel Abbas & Ruanne Abou-Rahme
CPKC (Emily Fahlén, Peter Spillmann, Marion von Osten)
Tim Etchells
Glenn Ligon
Frédéric Moser & Philippe Schwinger

Pier Paolo Pasolini
Catarina Simão
Ana Torfs
Ana Vaz

 

Mediathek

Während der gesamten Ausstellungsdauer ist darüber hinaus die sich seit New Narratives: Ökonomien anders denken im Aufbau befindende Mediathek mit Publikations-, Recherche- sowie Filmmaterial zu den Projekten im Altbau des Kunstgebäudes zugänglich.

 

Rahmenprogramm

Begleitend findet bei freiem Eintritt ein komplementäres öffentliches Vermittlungs- und Veranstaltungsprogramm mit Performances, Filmen, Vorträgen, Workshops und Diskussionen statt, zu dem neben den an der Ausstellung beteiligten Künstler_innen weitere internationale Gäste eingeladen sind. In einem öffentlichen Forum treffen zivilgesellschaftliche Initiativen zusammen und arbeiten in transdisziplinären Workshops, performativen Aktionen, Diskussions- und Vortragsformaten zu Fragen der Mitgestaltung von und Verantwortung für Gesellschaft.

 

Projektpartner und Förderung

Ein Projekt von
Akademie Schloß Solitude - Logo
Staatl. Akademie Schloß Solitude Stuttgart
Württ. Kunstverein Stuttgart - Logo
Schauspiel Stuttgart - Logo
Theater Rampe - Logo
Institut für Auslandsbeziehungen - Logo
in Kooperation mit
Die AnStifter Logo
Hannah-Arendt-Logo-Grau[1]

Hannah-Arendt-Institut

Fritz-Erler-Forum Baden-Württemberg
Hauptförderer
Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, Baden-Württemberg - Logo
Gefördert von
Prohelvetica
Flanders State of the art
Kuratorinnen

Christine Peters, Iris Dressler

 

Hinterleitner Design